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Die AfD: Vom politischen Gegner zum Schreckgespenst – Analyse und Entwicklung

Die Geschichte der deutschen Rechtsaußen-Partei war von Machtkämpfen und Wirren geprägt. Im Osten ist die AfD derzeit beliebt wie nie. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – nun Extremisten die Richtung bestimmen.

Ein heißer Sommertag, Dresden, Theaterplatz. Alice Weidel betritt die Bühne, schwarzer Blazer, weißes Hemd, die blonden Haare am Hinterkopf zum Knäuel zusammengebunden. Deutschlandfahnen werden geschwenkt. „Machtwechsel“ steht auf einem Schild, das am Rednerpult angebracht ist. „Wir brauchen ein zweites 1989“, ruft Weidel in die Menge. Eine zweite Wende? Befindet sich Deutschland in einer Diktatur, einer neuen DDR? „Ich bewundere euch für die Tradition der Freiheit“, sagt Weidel, die Westdeutsche, zu den Ostdeutschen. 45 Jahre alt, aufgewachsen in der Kleinstadt Harsewinkel, Nordrhein-Westfalen. Sie studierte Volkswirtschaft, arbeitete für Goldman Sachs, für den Vermögensverwalter Global Allianz Investors. Lebt mit einer Frau in einer eingetragenen Partnerschaft, zwei Söhne, Zweitwohnsitz in der Schweiz. Es lässt sich behaupten, Alice Weidel hat in ihrem Leben viel Freiheit genossen. Nun führt sie die „Alternative für Deutschland“, AfD, an. Eine Partei der Widersprüche, der Irrwege und Machtkämpfe, ein Sammelbecken von Menschen mit unterschiedlichsten Lebensläufen und Drall nach ganz rechts. Gut möglich, dass Alice Weidel im kommenden Jahr als deren Kanzlerkandidatin in die Bundestagswahl geschickt wird. Jetzt, wo die AfD in den drei ostdeutschen Bundesländern Sachsen, Thü­ringen und Brandenburg eine gute Chance hat, auf dem ersten Platz zu landen. Jetzt, wo die Partei so weit am rechten Rand steht, wie noch nie in ihrer mehr als zehnjährigen Geschichte – und zu einem Schreckgespenst für die deutschen Parteien wurde.

Die Anfänge der AfD

Das Berliner Maritim-Hotel, Friedrichsstraße, Berlin. Hierher lud die AfD am Abend des 22. September 2013 zur Wahlparty. Alles wirkte ein wenig improvisiert, die neue Partei war vom Ansturm überfordert. Sie war erst ein halbes Jahr davor als Protestpartei aus der Taufe gehoben worden. Damals ging es noch nicht gegen Zuwanderung oder um das Gefühl, in einer Diktatur zu leben. Die Parteigründer waren unzufrieden mit der EU-Politik, dem Euro und der Rettung der Gemeinschaftswährung in der Griechenlandkrise. Aus dem Stand hätte die als Professoren-Partei charakterisierte Truppe fast den Einzug in den Bundestag geschafft. Am Ende landete sie bei 4,7 Prozent, knapp unter der Fünf-Prozent-Hürde. Bei der EU-Wahl im Jahr darauf: 7,1 Prozent. Bernd Lucke, der Professor für Makroökonomie, zog ins EU-Parlament ein. Was den Anfang vom Ende seiner Politkarriere markierte. Ein Jahr später stürzte ihn Frauke Petry als Parteichefin. Mit seiner „Gutsherrenart“ habe Lucke seine Parteifreunde vor den Kopf gestoßen. Der Wirtschaftsliberale zog von dannen, gründete eine neue Bewegung nach seinem Gusto, der allerdings der Erfolg versagt blieb.

Petry, die eloquente Chemikerin aus Dresden, und Alexander Gauland, der ehemalige CDU-Staatssekretär in Hessen und konservative Zeitungsherausgeber mit dem Faible für Tweed-Sakkos, avancierten im Duo zu neuen Führungsfiguren und Stammgästen in den unzähligen deutschen TV-Polittalkshows. Über den Euro wollte da schon kaum jemand mehr reden, die dramatische Migrationskrise beschäftigte das Land. Und die beiden AfDler boten dem Fernsehpublikum, was dieses woanders so nicht bekam: scharfe, explizite Kritik an der damaligen Kanzlerin Angela Merkel und ihrer Flüchtlingspolitik. In diesen Jahren kochten auch die Kontroversen um die Richtung hoch, die das alles nehmen sollte. In den ostdeutschen Bundesländern hatten man­che AfD-Funktionäre schon früh die Nähe zu Bewegungen wie Pegida gesucht, die als rechtsextrem galt und ge­gen „Islamisierung“ und Zuwanderung auf die Straße ging. „Montagsdemos“ nannte sie die Aufmärsche, angelehnt an die Demonstrationen der Friedlichen Revolution in der DDR. Auch der Ruf „Wir sind das Volk“ wurde wieder skandiert, nun mit einem neuen Unterton. Bereits damals sorgte ein Mann für Aufregung: Björn Höcke, ein ehemaliger Geschichtelehrer aus Westdeutschland, der die AfD in Thüringen im April 2013 mitgegründet hatte. Sein völkischer Blick auf alles störte Parteikollegen. An der von ihm angestoßenen parteiinternen Bewegung „Der Flügel“ wollten selbst manche AfDler nicht anstreifen. Viele der Streits verliefen entlang einer Linie, die noch heute hervortritt: Sie verläuft zwischen den AfD-Leuten der neuen Bundesländern im Osten und jenen der alten im Westen.

Der Aufstieg der AfD

September 2017: 12,6 Prozent bei der Bundestagswahl, die AfD war nun drittstärkste Kraft Deutschlands, saß das erste Mal im Parlament. An der Spitze kehrte deswegen keine Ruhe ein: In einem Paukenschlag erklärte Petry in einer Pressekonferenz ihren Austritt aus der Fraktion und später auch aus der Partei. Wie schon Lucke wollte sie ihr eigenes Ding machen, knüpfte sogar Kontakte zur FPÖ und deren damaligen Chef Heinz-Christian Strache. Der Erfolg blieb aus. September 2021: 10,4 Prozent. AfD-Co-Parteichef Jörg Meuthen warf hin. Die Partei, sagte er, sei von den Völkischen übernommen worden, sie bestehe nur noch aus „Extremisten, Opportunisten und Karrieristen“. Er schloss sich der Zentrumspartei an, blieb erfolglos wie Lucke und Petry. Nun also Alice Weidel. Mit Tino Chrupalla – einem Malermeister aus Sachsen, Spitzname: „Pinsel“ – steht sie seit Sommer 2022 an der Spitze. Der Parteitag im sächsischen Riesa gilt heute als Machtdemonstration der im Osten verhafteten Seite der Partei, orchestriert von Höcke. Er musste unterbrochen werden, weil sich die AfDler nicht auf einen Antrag einigen konnten, in dem eine Annäherung an Russland beschlossen wurde – ohne den Krieg in der Ukraine zu erwähnen, was westdeutschen Delegierten sauer aufstieß.

Die AfD, gestartet als Professoren-Partei, darf heute vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Die Landesverbände in Sachsen und Thüringen gel­ten der Behörde als „gesichert rechtsextremistisch“. Es sind jene Bundeslän­der, in denen die AfD diesen Sonntag auf dem ersten Platz landen könnte. Deutschland sei kein souveränes Land mehr, sagte Tino Chrupalla bei der Wahlkampfveranstaltung in Dresden diese Woche. Das klingt, als denke er, es wäre von dunklen Mächten übernommen worden.